Volkswagen braucht vor allem den Ausbau der Schienenwege
Verkehrsexperte Dr. Anton Hofreiter
sagt:
»Volkswagen braucht vor allem den
Ausbau der Schienenwege«
Tappenbeck/Landkreis Gifhorn. Die A39 muss sich hintenan
stellen: »Bundesweit gibt es derzeit 80 Verkehrsprojekte, die bereits
durchgeklagt sind und gültiges Bauchrecht besitzen«, berichtete Dr. Anton
Hofreiter, oberster Verkehrsexperte von Bündnis 90/Die Grünen. »Man könnte jeden
Tag anfangen zu bauen, doch es passiert nichts – einfach, weil der
Bundeshaushalt das Geld nicht hergibt.«
Am 04. Mai war der 43-jährige, passionierte Bahnfahrer auf
Einladung der Bürgerinitiative »Natürlich Boldecker Land«von Berlin nach
Tappenbeck ins Sportheim gekommen, das einem möglichen Autobahnbau weichen
müsste. Vor 120 Zuhörern beantwortete er brennende Fragen zum Ausbau der A
39, deren Planfeststellung für den Abschnitt 7 möglicherweise noch in diesem
Jahr eingeleitet werden soll. Hofreiter ist Vorsitzender des
Bundesverkehrsausschusses mit 38 Mitgliedern aller Parteien.
Derzeit, so sagt er, könne es bei den zur Verfügung stehenden
Finanzen fast unvorstellbare »50 bis 60 Jahre dauern, von der Aufnahme einer
Straße in den Bundesverkehrswegeplan, bis sie wirklich in den Verkehr geht«. Der
kommende Bundesverkehrswegeplan müsse von 2015 an »deutlich entrümpelt werden«.
»Deshalb lassen Sie sich für Ihre A 39 nichts erzählen: Die
Autobahn kommt erst, wenn der Bagger dasteht«, riet er.
Welche enorme Rolle das Geld bei dem geplanten, 110km
langen Lückenschluss der A 39 zwischen Tappenbeck und Lüneburg spielt, wurde
auch noch einmal bei den Gesamtkosten deutlich. Die dafür veranschlagte eine
Milliarde Euro hielt der Verkehrsexperte für wenig realistisch: »Solche Zahlen
stimmen nie. Ich würde von 1,5 Milliarden ausgehen«, so Hofreiter. Kosten würden
herunter gerechnet, um Bauprojekte leichter durchzusetzen. Als jüngste Beispiele
führte er die Kostenexplosionen bei Stuttgart 21, dem Berliner Großflughafen und
der Hamburger Elbphilharmonie an.
Doch nur für zehn Prozent aller deutschen Straßenbauprojekte sei
derzeit überhaupt Geld da. Der Bund, mit einer Staatsverschuldung von 2000
Milliarden Euro, gibt jährlich »nur« zwei Milliarden Euro für den Aus- und
Neubau von Fernstraßen aus.»Aber das bestehende Straßennetz wird seit 40 Jahren auf
Verschleiß gefahren«, warnt Hofreiter, »wir bräuchten allein 3,5 bis 3,7
Milliarden Euro, um es zu unterhalten.«
Vor allem der Lkw-Verkehr belaste die Straßen schwer. Ein
40-Tonner, so Hofreiter, richte nach wissenschaftlichen Schätzungen den
100.000-fachen Schaden einer gleichlangen Autofahrt an. Aber stattdessen würden
lieber neue Straßen gebaut. Welche Region letztlich ihre Wünsche beim
Bundesverkehrsminister durchsetze, sei ein »basar-artiger Prozess«, ein zähes
Ringen politischer Fürsprecher um ihre Projekte. Bürgermeister und politische Abgeordnete definierten sich stark
darüber, Projekte für ihre Regionen herbeizuschaffen. Doch den von vielen
Mandatsträgern gern zitierten Satz »Die Wirtschaft braucht den Straßenbau«,
entkräftete Anton Hofreiter augenzwinkernd mit dem Argument: »Das Geld für den
Straßenbau wird so oder so ausgegeben – egal ob für Neubau oder Instandhaltung.«
In keinem Fall komme die Bauwirtschaft zu kurz. »Aber Spatenstich und Bänder
durchschneiden ist halt schöner, als Straßen zu reparieren«, spottete der
Bundestagsabgeordnete.
Auch auf die praktischen Fragen seiner Zuhörer hatte Hofreiter
Antworten: »Was kommt nach der Planfeststellung?« In der Regel dauere es zwei
Jahre, bis alle Klagen und Einsprüche abgearbeitet seien und das Baurecht
erteilt würde, meinte er. Dann könne man nur noch warten. Warum es überhaupt eine Planfeststellung gebe, wenn doch sowieso
kein Geld da sei, lautete eine weitere Frage. Hofreiter: »Die Straßenbaubehörden
hoffen immer wieder, dass sich neue finanzielle Fenster auftun.« Außerdem
dächten Straßenplaner in Zeiträumen von 40 bis 50 Jahren. »Die können sich gar
nicht vorstellen, dass sich auch mal was verändert hat.«
In Deutschland – neben Holland das Land mit dem dichtesten
Straßennetz der Welt – sei es eine Gewohnheit aus den 50er Jahren, zu sagen:
»Straßenbau ist gut und bringt Aufschwung«. Aber Menschen täten sich nun mal
sehr schwer damit, ihre Gewohnheiten zu ändern. Was in seinen Augen allein schon gegen die Fortsetzung »eines
starken Autobahnbaus in Deutschland« spricht, sei der Klimawandel. Die
Bundesrepublik habe sich verpflichtet, den klimaschädlichen
CO2-Ausstoß bis 2050 um 90 Prozent zu reduzieren. Bislang jedoch habe
man im Verkehrs- und Mobilitätsbereich noch keinerlei Erfolge diesbezüglich zu
vermelden.
Außerdem warnte Dr. Hofreiter vor der Endlichkeit der weltweiten
Rohölreserven. Selbst die größten Optimisten gingen heute davon aus, dass Rohöl
nur noch 30 bis 40 Jahre zu überschaubaren Preisen erhältlich sei. »Aber 70
Prozent des Rohöls, das wir täglich nach Deutschland importieren, verbrennen wir
für Mobilität.«
In diesem Zusammenhang räumte der oberste Grüne Verkehrsexperte
mit einem weiteren Vorurteil auf: VW brauche die Autobahn. »Volkswagen hat
sicher nichts dagegen, wenn die A 39 weitergebaut wird«, glaubt Hofreiter, doch
was der Konzern wirklich brauche, sei ein Ausbau der Schiene und ein
Ausbau des Schleusensystems, um seine Waren-Container über den Mittellandkanal
zu den Seehäfen Bremen oder Hamburg zu transportieren. Ein Containerschiff der
kleinsten Größe könne beispielsweise 66 Lkw-Ladungen transportieren. »Bei mir
waren auch Lobbyisten von VW. Die wollten kaum über die A 39 reden – ihr
Interesse am Ausbau der deutschen Schienenwege war deutlich am größten«, sagt
Dr. Anton Hofreiter. »Umso bedauernswerter sei es«, kommentierte an dieser Stelle
Günter Lamprecht von der BI, »dass Volkswagen seinen früheren Kohle-Hafen
derzeit vor allem dazu nutze, Menschen in einem Boot zu künstlichen Inseln rüber
fahren zu lassen, um Champagner zu trinken…«
Als Mittel zum Zweck, sich gegen unerwünschte Bauprojekte zu
wehren, lobte Hofreiter den Nutzen von Bürgerbefragungen – so wie im Nachbarort
Jembke bereits geschehen. Nach einem Bürgervotum gegen die geplante Tank- und
Rastanlage überdachte der Gemeinderat dort seine Position zur A 39 und sprach
sich in einem offiziellen Schreiben dagegen aus. Es sei in jedem Fall sinnvoll,
wenn sich eine Kommune so klar positioniere, sagte Hofreiter. Dies habe großes
Gewicht, weil der Bund Straßen nur ungern gegen den Willen einer Kommune baue.
Den in Tappenbeck versammelten Autobahn-Gegnern riet er, den
Dialog mit ihren lokalen Politikern zu suchen. »Politiker wollen ja auch nur das
Beste für ihre Region. Aber Sie als ihre Wähler müssen Ihnen sagen, was Sie
wollen.«
Pressetext: Anne-Kathrin Schulze,
Bürgerinitiative »Natürlich Boldecker
Land«